Seit Anfang 2022 ist das CSEE eine Kooperation mit Dr. Marc Schmid von den universitären psychiatrischen Kliniken Basel eingegangen. Wir versprechen uns viel Input für die pädagogische Weiterentwicklung unseres Zentrums von dieser Zusammenarbeit. Anlässlich seines Besuches Anfang Mai haben wir uns mit Marc Schmid unterhalten, um mehr über ihn, seine Arbeit, seine Ansichten zu Fragen der Jugendhilfe zu erfahren.

 

Herr Schmid, würden Sie sich kurz vorstellen? Was ihre Ausbildung ist und was tun Sie beruflich genau in Basel?

Mein Name ist Marc Schmid, ich bin leitender Psychologe in der UPK Basel. Von meiner Grundausbildung her bin ich Psychologe und Psychotherapeut. Ich habe Ausbildungen in Familientherapie, Verhaltenstherapie und körperorientierter Psychotherapie und ich bin auch als Verhaltenstherapeut Supervisor. In Basel bin ich zuständig für den Bereich der „Liaison“ und aufsuchenden Hilfen in der Klinik. Wir haben Verträge mit vielen psychosozialen Institutionen, ich glaube momentan sind es achtzehn, von geschlossenen Heimen bis hin zu Frauenhaus und Bundesasylzentrum oder Anbietern von ambulanten Maßnahmen. Dort haben wir ein Liaisonkonzept, das heißt wir beraten die Fachkräfte dort in der Institution, aufsuchend, zum Umgang mit den psychisch oft hoch belasteten Jugendlichen. Wir machen dort Abklärungen mit den Jugendlichen, versuchen gemeinsam zu reflektieren, was aus den Befunden heraus für die Pädagogikstrategien hilfreich sein könnten. Außerdem behandeln wir auch psychotherapeutisch und pharmakologisch, wenn das notwendig ist.

Wir haben zwei MST Kinderschutzteams, die aufsuchend mit Multiproblem-Familien arbeiten, die vom Jugendamt oft wegen Vernachlässigung oder Misshandlung durch psychisch kranke Eltern zugewiesen werden. Mit diesem familienpsychiatrischen Konzept arbeiten wir sehr intensiv mit der ganzen Familie, über 9 Monate hinweg.

Dann leite ich eine Arbeitsgruppe an der Universität Basel. Dort bin ich als Psychologe an der medizinischen und psychologischen Fakultät eingebunden. Ich habe da auch Lehraufträge und beschäftige mich mit meiner Forschungsgruppe hauptsächlich mit Projekten mit fremdplatzierten Kindern und Care Leavern, Qualitätssicherung in der Jugendhilfe, komplexen Traumafolgen bei Kindern, mit MST natürlich, selbstverletzendem Verhalten und Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter.

 

Danke sehr für diese Ausführungen, ich würde Sie auch gerne fragen, was Sie  zu dieser Arbeit mit schwerbelasteten Jugendlichen hinzieht, so wie wir sie auch hier in Dreiborn kennen? Wie sind Sie dazu gekommen? Es macht ja keiner diese Arbeit zufällig.

Also mich hat das Thema Fremdplatzierung und Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe eigentlich schon lange fasziniert, da ja mehr als die Hälfte der Patienten, die stationär in der KJPP behandelt werden, beide Systeme kennen. Ich habe ja schon die „Ulmer Heimkinderstudie“ gemacht. Damals kam die Frage auf, wer diese Studie mit den Heimen macht und mir hat diese Arbeit sehr gefallen. Insbesondere liebte ich auch die Kontakte mit den sehr engagierten Menschen in verschiedenen Heimen. Ich fand es sehr interessant, verschiedene Konzepte und Organisationen kennenzulernen. Zudem finde ich es schon immer auch aus ethischen Gründen wichtig, dass man die Versorgung auf die Jugendlichen ausrichtet, die es am dringendsten brauchen und die schlechtesten Chancen in unserer Gesellschaft haben. Gerade Jugendlichen in sozialpädagogischen Institutionen mit den schlechtesten Startbedingungen ins Leben, sollten doch eigentlich die besten Behandlungen erhalten. Leider werden die besonders traumatisierten und oft am stärksten psychisch belasten Menschen von kinder- und jugendpsychotherapeutischen Angeboten nicht erreicht und bleiben häufig unterversorgt. Leider haben die Kinder und Jugendliche in Heimen oft keine gute Lobby, weshalb zumindest ich mich für Sie einsetzen möchte.

Und ich kämpfe immer darum, dass wir die Strukturen verbessern. Denn eigentlich sind es eher nicht die Jugendlichen, die die Systeme sprengen, sondern wir schaffen es nicht, die Systeme so zu adaptieren, dass sie die Jugendlichen auch tragen können und viele Jugendliche uns immer wieder aufzeigen, wo wir nicht gut genug zusammenarbeiten. Verschiebebahnhöfe entstehen, weil man oft nicht gemeinsam die Verantwortung trägt und das Optimale aus beiden Systemen rausholt, sondern sich voneinander abgrenzt und sich gegenseitig die Verantwortung für den Jugendlichen zuschiebt.

Und das Interdisziplinäre und Kooperative ist eigentlich das, was mir sehr gefällt, weil ich einfach finde, dass man eigentlich zuerst mal denen helfen muss, die die allerschlechtesten Startbedingungen ins Leben haben. Das finde ich eigentlich, das muss man ja sagen, ist die größte Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Die Frage ob man Eltern hat, die alles für ihre Kinder tun können, oder ob man Eltern hat, die oft so überfordert sind, dass sie ihre Kinder nicht fördern können, nicht unterstützen können oder sogar durch Vernachlässigung und Misshandlung schwere Schäden für den gesamten weiteren Lebensweg auslösen können.

 

Danke sehr auch für diese Antwort. Sie sind jetzt zum zweiten Mal dieses Jahr hier in Dreiborn, kennen aber ganz viele Einrichtungen, auch geschlossene Einrichtungen wie unsere. Was ist ihr erster Eindruck?

Ja, ich habe den Eindruck, dass es eine sehr motivierte Einrichtung ist, die sich auch so einem großen Prozess einlässt. Eine sehr kompetente Einrichtung, wo es sehr motivierte Mitarbeiter gibt. Was mir noch aufgefallen ist, dass es eine große Breite an Angeboten gibt und ich hatte am Anfang ein bisschen den Eindruck, dass es auch ein bisschen wie mehrere kleinere Einrichtungen in einer Großen sind. Es ist ja in jeder größeren Institution immer die Herausforderung, wie man eine gemeinsame Haltung entwickeln und in verschiedenen Subsysteme tragen kann. Ich glaube, eine Chance dieses Prozesses liegt darin, dass er Impulse für eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Haltung geben kann.

Was mich sehr beschäftigt hat, nachdem ich beim letzten Mal weggefahren bin, war nochmal die Frage, was ist denn das Narrativ und die Erwartung mit dem die Jugendlichen ins CSEE kommen. Auch was die Erwartungen von den zuweisenden Richtern, aber fast noch mehr von der Gesellschaft und des unmittelbaren Umfeldes der Jugendlichen an das CSEE sind. Besagt das Narrativ, dass die Jugendlichen ins CSEE kommen, um bestraft, um gebessert zu werden? Sollen die Jugendlichen hier diszipliniert oder resozialisiert werden? Kommen hoch belastete Jugendliche mit vielen Problemen oder kommen Jugendliche, die Probleme machen? Wir müssen, um die Probleme, die diese Jugendlichen machen, in den Griff zu bekommen, vorrangig die Probleme bearbeiten, die sie haben. Sicher kommen hoch belastete Jugendliche, die viele neue Fertigkeiten erlernen und korrigierende Beziehungserfahrungen machen müssen. Ich würde es so sehen, dass es Jugendliche sind, die, weil sie so schwierige Erfahrung mit ihren eigenen Grenzen gemacht haben und auch deshalb später die Grenzen von anderen Menschen und die Regeln unserer Gesellschaft nicht wahren können.

Solche Jugendliche müssen vor allem korrigierende positive Erfahrungen machen, die für ihr Leben und das Erlernen von Vertrauen in andere Menschen und sozio-emotionalen Fertigkeiten wichtig sind. Dies geht nur in einer sicheren, wertschätzenden Umgebung. Die Frage, ob Jugendliche primär Ihr Verhalten verändern und für Ihr Fehlverhalten bestraft werden müssen, sind zwei ganz verschiedene Narrative und es macht natürlich für eine solche Einrichtung und das Milieu, das man anbieten möchte, einen großen Unterschied – wenn ich davon ausgehe, dass die jungen Menschen bestraft werden müssen, muss die Umgebung nicht schön und wertschätzend und heil sein. Wenn ich davon ausgehe, dass viele in einer sehr kargen, sehr vernachlässigenden Umwelt aufgewachsenen sind und sie hier vieles nachholen müssen, sieht es ganz anders aus. Wenn ich die Hypothese habe, dass viele willkürliche Strafen und Gewalt erlebt haben wird eigentlich auch deutlich, dass Strafe nicht der richtige Weg ist, um sie zu resozialisieren. Sie müssen ja eher lernen, Beziehungen einzugehen, Empathie aufzubauen und über die Internalisierung der Reaktion von Bezugspersonen auch Regeln zu verinnerlichen.

Was mir trotz der Haltung immer sehr wichtig ist: Ich möchte klarmachen, dass Traumapädagogik keine Kuschelpädagogik ist, sondern Traumapädagogik bedeutet zu verstehen, ohne einverstanden zu sein. Sich mit dem Fehlverhalten von Jugendlichen, mit ihnen gemeinsam sehr intensiv auseinanderzusetzen und ihnen vielleicht auch an der ein oder anderen Stelle Scham zu induzieren, ohne sie zu beschämen, ist für die langfristige Orientierung an gesellschaftlichen Regeln viel wirkungsvoller als Konsequenzen, die abgehakt werden.

 

Danke. Ich hätte Sie noch gerne gefragt, wie Sie jetzt am Beginn der Kooperation mit dem CSEE auch die Zielsetzung des Prozesses sehen. Sie haben ja jetzt einiges auch schon angedeutet.

Ich glaube, dass es immer eigentlich um die traumapädagogische Trias und einen sicheren Ort geht. Ohne ein Sicherheitserleben werden die Jugendlichen in ihrer bisherigen Umwelt wichtige Überlebensstrategien niemals ablegen können. Auch geht es um die Veränderung von Strukturen, um die äußere Sicherheit für die Mitarbeiter zu verbessern. Dann geht es darum, die Mitarbeiter in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken, in den Interaktionen mit traumatisierten Kindern. Aber auch in ihrer Resilienz und Gesundheit (im Sinne von Stressprävention) und in ihrer Arbeitszufriedenheit. Und natürlich geht es auch um die Kinder und Jugendlichen selbst, diese sollten mit ihrem „Problemverhalten“ besser verstanden werden und korrigierende Beziehungserfahrungen machen. An einem sichereren Ort neue Fertigkeiten aufbauen, um aus diesem Teufelskreis von sich stetig wiederholenden hoch belastenden Interaktionsmustern ausbrechen zu können. Durch ein gezieltes Fördern von Bindung und sozio-emotionalen Fähigkeiten, die die Jugendlichen in ihren Familien so noch nicht ausreichend entwickeln konnten, wird der Grundstein für das Erlernen von alternativen Verhaltensweisen gelegt, die für das Zurechtkommen in unserer Gesellschaft essentiell sind.